Unsere Führungsreihe – Teil 8
Wenn von Führung die Rede ist, gehen die Ansichten unter Führungskräften weit auseinander. Von Einigkeit ist keine Spur. Im Gegenteil: Die Extreme existieren weiterhin. Die Hardliner führen nach klassischem Muster. Mit harter Hand. Von oben nach unten. Ohne Kompromisse. Ein Modell, das allem Anschein nach jedoch an Attraktivität und Zustimmung verliert. Denn die Zeiten ändern sich und mit ihr auch der Umgang mit Mitarbeitern. Es scheint, als verlange Führung den Führenden zunehmend mehr ab.
Wir von proJob wollten es genauer wissen und haben uns deshalb auf eine ungewisse Reise begeben, um mehr über Führung und die Menschen dahinter zu erfahren. Wie sie verstanden und gelebt wird. Wie wird Führung im Jahr 2024 interpretiert? Macht Führen eigentlich Spaß? Wieso ist Führung ein Erfolgsfaktor? Fragen über Fragen. Mit teilweise verblüffenden Antworten. In loser Folge bitten wir Führungskräfte zum Gespräch und fragen nach. Es könnte spannend werden. Begleiten Sie uns einfach.
Folge 8 – Führung aus Sicht eines Piloten einer deutschen Airline
Ich heiße Marcel und bin 35 Jahre alt. Zurzeit fliege ich als Senior First Officer bei einer großen deutschen Airline Langstreckenflüge. Ich habe es immer gemocht zu reisen, was mich auch heute noch zum Arbeiten motiviert. Die Welt kann außerhalb Europas so ganz anders sein, manchmal reichen wenige Stunden Flug, um in einer anderen Welt zu landen. In meiner Freizeit versuche ich viel Sport zu machen und mich gesund zu ernähren, um der regelmäßigen Schichtarbeit zu trotzen. Im Urlaub gehe ich gerne Kitesurfen oder tauchen. Zuhause in Köln spiele ich Fußball, wobei ich durch die unregelmäßigen Dienstpläne mit einhergehender Abwesenheit leider oft fehle.
Was verstehst Du eigentlich unter Führung und was ist vor allem gute Führung aus Deiner Sicht?
Allgemein heißt Führung für mich Verantwortung für ein Team zu übernehmen sowie für dessen Output bzw. Performance.
Gute Führung zeichnet sich dadurch aus, dass Vertrauen in einem Team herrscht und gerne an einem gemeinsamen Ziel motiviert gearbeitet wird.
In unserer Branche heißt Führung die juristische Verantwortung zu übernehmen. Der Kapitän ist verantwortlich für die sichere Durchführung des Flugauftrags. Sollten Fehler gemacht werden (beispielsweise die falsche Abflugs Route geflogen werden), so wird er die Strafe des Luftfahrtbundesamtes zahlen müssen. Aber auch Dinge wie die Einhaltung der maximalen Flugdienstzeiten, Ruhezeiten und disziplinarische Entscheidungen liegen in seiner Hand. In meiner Position als Senior First Officer vertrete ich den Kapitän während der Pause und unterstütze ihn während der gemeinsamen Arbeitszeit. Entscheidungen werden in der Crew immer abgesprochen und gemeinsam getroffen, wobei die juristische Verantwortung beim Kapitän bleibt.
Gute Führung heißt für mich, dass der Chef authentisch auftritt, der Crew vermittelt für sie da zu sein und hinter ihnen zu stehen. Dass er aber gleichzeitig den Gesamtüberblick behält, das heißt, dass er den Flug sicher und pünktlich durchführt und bei Verzögerungen und Unregelmäßigkeiten die Crew motiviert, ihr durch Ansagen an Gäste etwas den Rücken freihält und bei Überschreitungen von Flugdienstzeiten Lösungen findet, die Arbeitsbelastung zu steuern.
Was macht Führung gerade in Deinem Luftfahrt Umfeld aus?
Man muss hier unter der Führung innerhalb der Cockpitbesatzung und der Kabine unterscheiden. Im Cockpit ist das Hierarchiegefälle bei westlichen Fluggesellschaften sehr flach. Generell sind die Leute per Du und fliegerisch auf dem gleichen Level, das macht es leicht Fehler anzusprechen. Für uns ist die Hauptaufgabe Fehler zu vermeiden. Unsere Verfahren sind so standardisiert, dass man sich relativ wenig auf sein Gegenüber einstellen muss und eigentlich mit jedem gut und harmonisch arbeiten kann. Ich habe es oft erlebt, dass Leute im Cockpit mitgeflogen sind und uns (also Kapitän und mich als SFO) gefragt haben, seit wie vielen Jahren wir gemeinsam arbeiten würden. Jedes Mal waren sie überaus erstaunt, wenn wir gesagt haben, dass wir uns vor einer Stunde zum ersten Mal im Leben gesehen haben. Aber die geregelten Arbeitsverfahren und die Auswahl von einem „ähnlichen Schlag Mensch“ sorgen dafür, dass wir eine außerordentlich gute Arbeitsatmosphäre haben. Führung gegenüber der Kabine bedeutet Informationsweitergabe und Rückendeckung. „Was ist auf dem Flug zu erwarten, was erwarten wir vom Cockpit von euch, gibt es Besonderheiten?“ Wie der Service gemacht wird, wissen die Kolleginnen selbst am besten. Hier sollte man sich eigentlich nicht einmischen. Eher geht es darum, ob bei Turbulenz Service noch möglich ist, ob wir in einem Gebiet fliegen, wo wir in den nächsten Stunden keine Landung ermöglichen können und wir deshalb frühzeitig Informationen über Gäste mit medizinischen Problemen benötigen. Man erlebt es sehr oft, dass alte, schwerkranke Menschen zum Sterben in ihr Heimatland reisen und unterwegs Probleme bekommen.
Was macht Führung möglicherweise dort besonders herausfordernd?
Crews können abhängig von Flugzeugtypen und der Bestuhlung aus 4 – ca. 20 Flugbegleitern bestehen. Dazu kommt dann ein Kapitän und mindestens ein First Officer. In meiner Firma arbeiten über 5000 Piloten und über 20.000 Flugbegleiter. Das heißt, dass die Crews nie gleich zusammengestellt sind und dass man sich meistens vorher noch nicht kennt und danach eventuell nie wieder sieht. Man hat also nur sehr kurz Zeit einen ersten Eindruck zu vermitteln (ein Briefing vorab dauert knapp 10-15 Minuten). Danach ist man zum großen Teil durch die Flugzeugtüre vom Rest der Besatzung getrennt. Zu Gesicht bekommt man eigentlich nur die Flugbegleiter, die ihre Position vorne nah am Cockpit haben. Kommunikation findet oft nur per „Telefon“ statt. Sollte es also im Flugzeug zu einem medizinischen Zwischenfall kommen, zu Gästen, die untereinander oder mit der Besatzung in einen Konflikt geraten oder zu Notfällen mit Feuer, Rauch, kaputtem Equipment, so muss man telefonisch relativ genau und trotzdem kurz beschreiben können und verstehen, was gemeint ist, um richtige Entscheidungen zu treffen. Und das zu jeder Tages- und Nachtzeit bei Arbeitstagen mit bis zu 16 1/2 Stunden.
Wie hast du Führung denn bislang in Deiner bisherigen Laufbahn erlebt; was waren positive oder auch negative Erlebnisse?
Wenige Sachen sind mir negativ in Erinnerung geblieben. Man arbeitet besser und der Arbeitstag geht schneller um, wenn man gut gelaunt und positiv gestimmt ist. Zahlreiche Tarifkonflikte und Auseinandersetzungen haben teilweise dazu geführt, eine Arbeitseinstellung zu beschwören, bei der nicht mehr das Beste vom Besten erreicht wird. Das ist monetär schwer zu messen und ich erinnere mich an wenige Fälle und Ausnahmen, wo Kapitäne nur das getan haben, was sie laut Arbeitsvertrag zu tun haben und es ihnen egal war, dass sich Verspätungen im Laufe des Tages vergrößert haben.
Gute Führung erlebe ich fast täglich. Eine Crew ist ein kleines Team, dass für sich arbeitet. Und es gibt viele Ecken und Stellschrauben, um für eine positive Atmosphäre zu sorgen. Gäste können sehr unzufrieden sein. Teilweise berechtigt durch schlechte Ausrüstung an Bord oder fehlendes Essen. Teilweise durch externe Faktoren wie langwierige Sicherheitskontrollen und verlorenes Gepäck. Und teilweise gibt es auch Gäste, die Medikamente oder Alkohol missbraucht haben. All diese Emotionen müssen von der Kabinenbesatzung aufgenommen und abgefedert werden. Es gibt tolle Momente, aber es gibt auch schlimme oder verletzende Situationen. All das kann die Crew besser handlen, wenn sie selbst eine gute und positiv gestimmte Arbeitseinheit ist. Manchmal reicht es als Führungskraft sich das erlebte nur anzuhören, manchmal braucht man zwischen Flügen eine Pause für die Besatzung, manchmal kann man mit einer Runde Kaffee vom Flughafen schon die Stimmung aufbessern.
Wie werdet Ihr in Eurer Ausbildung zum Piloten auf das Thema Führung vorbereitet; spielt da euer Crew Ressource Management eine Rolle?
Zuallererst gibt es eine theoretische und praktische Ausbildung, die zum Erwerb von den benötigten Lizenzen führt. Schon innerhalb dieser Ausbildung werden erste CRM-Kenntnisse vermittelt. Es gibt sogar ein Fach, dass Human Factors and Limitations heißt. Dort werden physiologische und psychologische Grundkenntnisse vermitteln. Später gibt es im Laufe der Karriere regelmäßige Schulungen und Leadership Competence Kurse. Fehler, die zu Totalverlusten führen, sind meistens eine Verkettung von mehreren Fehlern. Der Fehler Human Error ist meistens auch zu finden. Schon allein deshalb ist es wichtig mindestens zwei Piloten zu haben, die sich kontrollieren und gegenseitig unterstützen können.
Wen genau führst du als Piloten eigentlich und was sind typische Führungs-Situationen?
Unsere Berufsbezeichnung lautet offiziell „Flugzeugführer“. Wir führen also dieses extrem teure Gerät. Wir entscheiden wie viel Sprit getankt wird und ob das Flugzeug in seinem technischen Zustand akzeptiert wird. Wir koordinieren und kontrollieren die Arbeit drum herum und behalten die Zeit dabei im Auge. Muss Fracht zugunsten von Treibstoff ausgeladen werden? Können wir ein sicheres Betanken mit Gästen an Bord sicherstellen? Wir führen die Kabinenbesatzung. Gerade auf Kurzstrecke ist die Sorgfaltspflicht gegenüber der Crew besonders wichtig. Es gibt hier keine Pausenregelung. Während des Flugs ist auf Kurzstrecke wenig Zeit, am Boden ist immer zu wenig Zeit – während die Kabine die neubeladenen Essen verstaut, soll sie dem Reinigungspersonal auf die Finger schauen. Oft bleibt nicht mal Zeit die Passagiertoilette aufzusuchen, etwas zu trinken, geschweige denn eine heiße Mahlzeit schnell im Stehen einzunehmen. Und da auch auf Kurzstrecke die Arbeitstage oft an die 12 Stunden herangehen (exklusive Transportzeiten von und zu den Hotels), muss dann auch einfach mal das Boarding verschoben werden.
Auch haben wir Verantwortung gegenüber den Gästen. Das fängt beim Flugweg an, beim Umfliegen von Unwettern und bei Vorsichtsmaßnahmen während Turbulenzen oder technischer Schwierigkeiten.
Wie würdest du dann die drei wichtigsten Werte Deines Führungsverständnis bezeichnen?
Wichtig ist mir persönlich Authentizität. Auch erwarte ich, dass man ein Gespür für die Wahrnehmungen von Stimmungen und Bedürfnissen innerhalb der Besatzung und gegenüber den Passagieren wahrnimmt. Also die Fähigkeit zur Empathie. Und das Wichtigste: den Gesamtüberblick nie zu verlieren, zu wissen was wann wichtig ist und welche Probleme erst später abgearbeitet werden. Wobei das wohl eher eine Fähigkeit als ein Wert ist.
Eine Führungsperson sollte auch immer als respektvolle Person wahrgenommen werden. Auch wenn Gäste oder Mitarbeiter anstrengend sein können, so weiß man doch nie „welches Päckchen“ diese tragen und was ihnen an dem Tag schon passiert ist.
Auch eine offene Fehlerkultur ist ein sehr wichtiger Grundstein für einen sicheren Flugbetrieb: Ich bin sehr froh, dass Fehler offen angesprochen werden. Innerhalb der täglichen Operation, aber auch wenn mal etwas richtig schiefgelaufen ist. Erkennen wir Fehler oder Gefahren, so melden wir diese ohne Konsequenzen zu befürchten. Das wird bei uns Just Culture genannt. Unsere negativen Erfahrungen werden ausgewertet und allen Kollegen zur Verfügung gestellt, falls unsere Sicherheitsabteilung der Meinung ist, dass die Kollegenschaft davon profitiert und der Flugbetrieb sicherer wird.
Zusammengefasst: offene Fehlerkultur, Respekt und Empathie.
Was sind aus deiner Sicht die wichtigsten Instrumente guter Führung?
Eigenverantwortung und damit die Freiheit zu haben, Entscheidungen zu treffen, die auch Geld kosten ohne Konsequenzen zu fürchten. Sei es bei der Bestellung von Treibstoff oder der Verschiebung von Abflügen durch Verlängerungen der Ruhezeiten oder außerplanmäßigen Landungen an Ausweichflughäfen. Dem Ablehnen eines Flugzeugs aus technischen Gründen. Oder sogar dem Abladen von Gästen bei krassem Fehlverhalten (ohne bei VIPS oder Politiker ausnahmen machen zu müssen).
Gibt es für Dich ein Vorbild als Führungskraft; auch außerhalb deines aktuellen beruflichen Umfeldes?
Innerhalb meines Umfeldes habe ich viele verschiedene Führungskräfte kennengelernt. Immer wieder sind mir einzelne positive Eigenschaften aufgefallen, die ich kombiniere und damit meinen eigenen, individuellen Führungsstil entwickle. Außerhalb meines beruflichen Umfeldes sind mir schon einmal negative Führungsstile aufgefallen – ich finde man muss immer versuchen, jeden Mitarbeiter mit Respekt zu behandeln und ihm ein Stück weit Vertrauen entgegenzubringen, dass er seine Aufgaben kompetent und motiviert ausführen wird.
Gerade deine Generation scheint zum Thema Führung hohe Anforderungen zu haben; wie schätzt du das ein?
Eine Führungskraft muss für mich kompetent wirken und jederzeit den Gesamtüberblick haben, ohne sich in Details zu verlieren. Gerade in unserem Arbeitsumfeld sollte sie weltoffen sein. Autoritäre Führungsstile gehören der Vergangenheit an – zumindest in unserer Branche trifft man auf kompetente und gebildete Menschen, die nachvollziehen wollen und müssen, warum etwas wie gemacht werden soll. Außerdem lohnt es sich sehr, den einzelnen Mitarbeitern zuzuhören, um Veränderungen am Produkt nicht nur Theoretikern zu überlassen. Feedback ist sehr weit verbreitet und es lohnt sich oft dieses anzunehmen.